von Hubert Gehring / Markus-Liborius Hermann
Das 19. Jahrhundert – Liberalismus und Antiklerikalismus
Als die Ideen des Liberalismus Mexiko zu Beginn des 19. Jahrhunderts erreichten, zerbrach die Einheit von Staat und Kirche. Nun wurde ein handlungsmächtiger Staat gegenüber der Kirche und vor allem die Unabhängigkeit gefordert. Für diese kämpfte zwar auch eine große Zahl von Priestern – hier sei vor allem Hidalgo genannt, dessen Ruf nach Freiheit 1810 (El grito) jedes Jahr am 15. September als Unabhängigkeitstag gefeiert wird. Doch wurden diese Kleriker von der Kirchenhierarchie, die eng mit der spanischen Kolonialmacht verbunden war, oft verurteilt.
So kam es schon bald zu Spannungen. Das 1821 unabhängig gewordene Mexiko strebte die Souveränität über all die Bereiche an, in denen die katholische Kirche bis zu diesem Zeitpunkt alleinige Autorität war, nämlich über die Schulen und Universitäten, die Krankenhäuser, das Personenregister und natürlich über die kirchlichen Güter. Ein möglicher Kompromiss scheiterte an den chaotischen Zuständen der nächsten Jahre: 1822 schlug sich General Augustin de Iturbide auf die Seite der aufständischen Mexikaner und bewegte sie dazu, eine Monarchie zu proklamiren (Plan von Iguala). Im Anschluss ließ er sich selbst zum Kaiser, Augustin I., ausrufen, wurde aber 1823 von General Antonio López de Santa Ana gestürzt, vertrieben und nach der Rückkehr aus dem Exil 1824 hingerichtet.
Mit Iturbides Sturz und der Verfassung von 1824 beginnt die Epoche der mexikanischen Republik, in der der Staat versuchte, das früher von den Spaniern ausgeübte Patronat und damit auch die Rechte über die Kirche in Mexiko zu übernehmen. Doch waren die ersten republikanischen Regierungen durch politische Schwäche und Instabilität gekennzeichnet. Als Beispiel sei hier nur Santa Ana angeführt, der durch Putsche und Intrigen immer wieder in das politische Geschehen eingriff. In diese Zeit fällt u.a. auch der Verlust von zwei Fünfteln des Staatsgebietes an die USA als Folge des mexikanisch-amerikanischen Krieges (1846–48).
Indessen gewann die liberale Opposition unter der Führung von Juan Álvarez und Benito Juárez an Einfluss. 1854 kam es zum Aufstand (Plan von Ayutla), Álvarez wurde ein Jahr später Übergangspräsident und Juárez Justizminister. Letzterer nahm kurz darauf die Durchführung eines radikalen Reformprogramms in Angriff, das als La Reforma in die Geschichte eingehen sollte. Dieses war von einem extremen Antiklerikalismus bestimmt, der zu einem wichtigen Bestandteil des mexikanischen Revolutionsmythos werden sollte. Hier beginnt ein mexikanisches Phänomen: eine politische Elite im Kampf gegen den Einfluss der Kirche, obwohl die Mehrheit der Bevölkerung katholisch ist. Genau betrachtet waren die Auseinandersetzungen also von antiklerikaler und nicht von antireligiöser Natur.
Konkret äußerte sich dies 1855 in einem nach Juárez benannten Gesetz, welches den Klerikern, aber auch den Militärs, alle Sonderrechte aberkannte. 1856 wurde die Kirche gezwungen, alle Gebäude und Grundstücke zu verkaufen, die nicht unmittelbar genutzt wurden (Gesetz Lerdo). Konstitutionalisiert wurde dies in der liberal-laizistisch-antiklerikalen Verfassung von 1857 und den Reformgesetzen von 1859. (Hier sei auf die spanische Verfassung von Cádiz von 1812 hingewiesen. Diese war von einem liberal-antiklerikalen Geist getragen und hatte klare Auswirkungen auf die rechtliche Entwicklung in Mexiko.)
Dort wurden eine strikte Trennung von Staat und Kirche vorgeschrieben. Das bedeutete: Aufhebung von Kirchengerichten, Säkularisierung kirchlicher Güter, u.a. auch der Krankenhäuser, Ausweisung des päpstlichen Nuntius, Einführung der Zivilehe und eines zivilen Personenregisters. Auch wurde es Parteien untersagt, sich unter dem Namen einer bestimmten Konfessionen zu organisieren. Eine christlich-demokratische Partei ist seitdem in Mexiko nicht zulässig.
Doch die Trennung vollzog sich nicht mit einem Mal. Vielmehr war es ein langwieriger Prozess, der von sozialen Brüchen und Konfrontationen gekennzeichnet war, in deren Konsequenz es zu einem dreijährigen Bürgerkrieg kam, der 1861 mit der Niederlage der konservativen und kirchentreuen Kräfte endete. Doch 1861/62 landeten Truppen der Gläubigerstaaten Spanien, England und Frankreich, die die Rückzahlungen ihrer Kredite gefährdet sahen. Daraus entwickelte sich eine französische Invasion. 1864 wurde der österreichische Erzherzog Maximilian als Kaiser von Mexiko installiert. Anfangs unterstützte der katholische Episkopat diesen Versuch einer Wiedereinführung der Monarchie. Doch schon sehr bald kam es zu schwer wiegenden Differenzen zwischen dem neuen Kaiser und der Kirche, so dass der Nuntius das Land erneut verließ.
Unter der Führung von Juárez besiegten die republikanischen Truppen 1867 die französischen Besatzer. Mit der Hinrichtung Kaiser Maximilians im selben Jahr endete die mexikanische Monarchie endgültig. Die Republik wurde wieder eingeführt und Juárez, jetzt Präsident Mexikos, trieb die Trennung von Staat und Kirche im politischen und gesellschaftlichen Bereich bis zu seinem Tod 1872 weiter voran. Die katholische Kirche war zu diesem Zeitpunkt in einem desaströsen Zustand; ihre Lage verbesserte sich erst unter dem Präsidenten und späteren Diktator Porfirio Díaz.