von Hubert Gehring / Markus-Liborius Hermann
Das Porfiriato – Zeit der Wiederversöhnung
In Díaz’ Amtszeit, dem sogenannten Porfiriato (1876–1911), verabschiedete sich der mexikanische Staat de facto vom antiklerikalen Liberalismus und wandelte sich in ein zentralistisches Regime. Die Beziehungen zwischen Kirche und Staat jedoch waren überwiegend von Toleranz und Akzeptanz von Seiten der Regierung geprägt, aber auch, dies wieder in der liberalen Tradition, von einer strikten Trennung bei den Institutionen. Der Kirche wurde u.a. gestattet Schulen zu unterhalten, Laienorganisationen und soziale Einrichtungen zu gründen und den Kult öffentlich auszuüben. Es war ihre Zeit der Reorganisation, in der sie erneut, wenn auch nicht direkt, politischen Einfluss gewann. Díaz, der die Rolle des republikanischen Präsidenten mit der des sich durch Wahlbetrug an der Macht haltenden Diktators vertauschte, nutzte die Kirche seinerseits zur Stabilisierung und Legitimierung seiner Herrschaft.
Die Mexikanische Revolution und die nachrevolutionären Regierungen – Strikte Trennung und Kirchenkampf
Zu Beginn der mexikanischen Revolution (1910–29), die sich nur aus der Opposition gegen die Diktatur von Díaz erklären lässt, wurde der Kirche daher vorgeworfen, die reaktionären Kräfte unterstützt zu haben – so pauschal wohl zu Unrecht.
In den ersten Revolutionsjahren sind vor allem Francisco Madero, Emiliano Zapata, Francisco Villa, Victoriano Huerta, Alvaro Obregón, Venustiano Carranza, und Plutarco Elías Calles als die entscheidenden handelnden Gestalten zu nennen. Eine 1910 gegründete Katholische Partei unterstützte zuerst Madero, schwenkte dann aber auf den später besiegten und abgesetzten Huerta um, der den ersten revolutionären Präsidenten Madero 1913 ermorden ließ und für ein Jahr die Macht an sich riss. Villa, Obregon, Carranza und Calles stammten allesamt aus dem Norden des Landes, der als nicht sehr katholisch galt. Calles war zudem ein uneheliches Kind; zu dieser Zeit ein großes gesellschaftliches Problem, das seine Beziehungen zur Kirche sicherlich nicht förderte.
In der Verfassunggebenden Versammlung von 1916/17 waren vor allem die kirchenfeindlichen Aktivisten der Revolution repräsentiert, die das politische Agieren der Katholischen Partei gegen Madero nicht vergessen hatten. Die Revolutionsführer sahen in der Kirche ein Hindernis auf dem Weg zu ihrem Ziel, einen sozialistischen Staat zu gründen. Deshalb wollten sie sie als politische Macht ausschalten. So wurde der organisierte Katholizismus durch die Verfassung von 1917 völlig vom öffentlichen Leben und vor allem von jeglicher politischer Partizipation ausgeschlossen. Dies geschah vor allem dadurch, dass der Kirche der Status einer juristischen Person aberkannt wurde. Da sie damit offiziell nicht mehr existierte, verlor sie jeden Einfluss auf das Erziehungswesen, auf die Wohlfahrt und auf die Wissenschaft. Sie hatte keine Besitzrechte an ihren Bauten, die religiösen Orden wurden verboten, Konfessionsschulen geschlossen. Des Weiteren wurden die Bürgerrechte der Kleriker massiv eingeschränkt, vor allem dadurch, dass sie weder ein aktives noch ein passives Wahlrecht ausüben durften. Auf diese Weise versuchte der Staat, der Kirche jede Möglichkeit zu nehmen, seine Autorität in Frage zu stellen.
Die Konflikte zwischen kirchlicher und politischer Macht erreichten in den zwanziger Jahren unter Calles, nunmehr Präsident und „oberster Revolutionsführer“, ihren Höhepunkt. Das Gesetz Calles von 1926 schränkte das Leben der Kirche noch weiter ein. Kultausübung und Kirchenbauten mussten durch die zuständigen Behörden genehmigt werden, in eini- gen Bundesstaaten wurden Kirchen, Konvente und Klöster durch die Regierung geschlossen und konfis- ziert, in manchen katholische Priester nur zugelassen, wenn sie verheiratet waren. (In manchen Regionen musste jede Heilige Messe genehmigt werden.)
Dies kam einem Priesterverbot gleich. Die Auseinandersetzungen zwischen der Regierung und der katholischen Bevölkerung gipfelten in dem 1926 beginnenden Bürgerkrieg, dem Cristero-Aufstand, der 1929 blutig niedergeschlagen wurde. (Der Schlachtruf der Cristeros lautete: „Viva Cristo Rey!“)
Das Zerwürfnis zwischen Kirche und Staat wurde in den dreißiger Jahren mit Hilfe des US-amerikanischen Botschafters Dwight D. Morrow überwunden. Der Kompromiss bestand darin, dass der Staat die Kirche als gesellschaftliche Größe anerkannte, die Kirche sich im Gegenzug aber jeglicher politischer Einflussnahme enthielt. Dieser Modus vivendi nahm jedoch erst unter Calles Nachfolgern wirklich Gestalt an. Die Regierung forderte nicht mehr die strikte Einhaltung der Verfassung und duldete zum Beispiel Konfessionsschulen und Universitäten unter kirchlicher Leitung. Kirchen waren zwar nationales Eigentum, aber unter der „Verwaltung“ der Geistlichkeit. Auch Orden konnten wieder in Mexiko tätig sein. Im Gegenzug enthielt sich die Kirche jeglicher politischer Infragestellung der Regierung und des Staates. Wo sich dennoch von kirchlicher Seite Kritik erhob, kam sie nie von der Kirche direkt, sondern von christlichen Laienorganisationen, die ihre Bedenken öffentlich formulierten. Hier kann man z.B. den Nationalen Elternverband nennen, der im Streit um die sozialistische Erziehung in den dreißiger Jahren die Standpunkte der Kirche artikulierte.
Doch im Allgemeinen hielten sich beide Seiten an die Vereinbarungen. Politische Mandatsträger, die die Einhaltung der Verfassung in kirchlichen Fragen zu eindringlich verlangten, verloren zuweilen ihr Amt und mussten manchmal sogar ihren Wohnort wechseln. Letzteres war zumeist den katholischen Nachbarn zu verdanken, die sie gesellschaftlich isolierten. Öffentlich staatskritische Priester wurden auf der anderen Seite von ihren Oberen zur Ordnung gerufen. Über der Kirche hing das Damoklesschwert der Verfassung, doch der Faden war reißfest.
Ende der Sechziger begann sich diese Situation zu ändern. Mit der Sozialenzyklika Populorum Progessio (1967) von Papst Paul VI. und der Zweiten Allgemeinen Konferenz des Lateinamerikanischen Episkopats in Medellín (1968) übernahm die Katholische Kirche die Rolle eines Vorreiters in sozial-politischen Fragen. Doch schwieg die Amtskirche zu den blutig unterdrückten Studentenunruhen von 1968 (Massaker von Tlatelolco), obwohl progressive Teile der Kirche gegen das Massaker protestierten und eine Beendigung des Ausnahmezustands forderten.
Einen Wendepunkt in den Beziehungen stellte der erste Papstbesuch 1979 dar. Zur Ankunft des Papstes und bei seinen öffentlichen Auftritten kamen Millionen von Menschen zusammen. Man trug Kreuze durch die Straßen Mexikos und betete öffentlich. Die mexikanische Regierung hatte die Situation völlig falsch eingeschätzt. Johannes Paul II. ermunterte die mexikanischen Bischöfe, als „Lehrer der Wahrheit“ das Schweigen zu brechen und diese Wahrheit zu verkünden, „ohne Mühen zu scheuen“. Danach traute sich der katholische Klerus mehr und mehr, zu sozialen und politischen Fragen Stellung zu nehmen. Die Kirche zeigte sich zudem entschlossener bei der Beanspruchung ihrer Rechte und drang durch systematisches Anprangern von Ausbeutung, Ungerechtigkeit, Autoritarismus und Unterdrückung auf das politische Gebiet vor. Diese Atmosphäre des Wandels wurde auch durch die Wirtschaftskrise von 1982 gefördert, da die Legitimation des Staates nun auch von der Wirtschaft massiv in Frage gestellt wurde. Als ein Beispiel sei das Jahr 1986 genannt, in dem der Erzbischof von Chihuahua, Adalberto Almeida y Merino, ankündigte, die Kirchen seines Bistums wegen des Wahlbetrugs in seinem Bistum, einer „gesellschaftlichen Sünde“, geschlossen zu halten. Die Schließung der Kirchen fand zwar auf Weisung Roms nicht statt, doch zeigte sich, dass die Zeit des Modus vivendi ihrem Ende zuging.
Als sich Carlos Salinas de Gortari (Partido Revolucionario Institucional) 1988 durch einen offensichtlichen Wahlbetrug das Präsidentschaftsamt sicherte, war er auf die Unterstützung von Kirche und Wirtschaft angewiesen. Und da auch in der Politik Gesten von großer Bedeutung sind, lud er erstmalig in der mexikanischen Geschichte kirchliche Vertreter zu seiner offiziellen Amtsübernahme ein. Die Eingeladenen standen vor einer schwerwiegenden Entscheidung. Eine Ablehnung hätte die Legitimität der Wahl und der Regierung Salinas erheblich geschmälert. Schon der PRD-Präsidentschaftskandidat Cuauthemoc Cárdenas erkannte die Regierung nicht an. Auch der PAN-Kandidat Manuel J. Clouthier del Rincón trat nach Verkündigung des Wahlergebnisses in einen Hungerstreik, bevor er einige Monate später bei einem bis heute nicht geklärten Autounfall ums Leben kam. Als eine mögliche Konsequenz wurden von kirchlicher Seite Unruhen oder sogar ein Bürgerkrieg befürchtet. Ob diese Gefahr wirklich bestand, ist nicht eindeutig zu sagen, doch wird sie von einer Mehrheit der Beobachter für unwahrscheinlich gehalten.
Eine Annahme der Einladung dagegen konnte als Unterstützung der korrupten und antidemokratischen Regierung gewertet werden. Damit stand die Reputation der Kirche selbst auf dem Spiel, da sie sich dem Verdacht aussetzen würde, sich „wie immer“ an die Sieger zu halten. Anderseits ergab sich hier die Möglichkeit eines langsamen, aber sicheren und friedlichen Wandels. Sie entschied sich für die Teilnahme an der Zeremonie. Und schon bei diesem Anlass verkündete Salinas, die Beziehungen zur Kirche „modernisieren“ zu wollen. Konkretisiert wurde dies in seinem Jahresbericht 1991, in dem er ankündigte, die Verfassung zugunsten der Kirche zu ändern. Der Technokrat Salinas sah in den antiklerikalen Artikeln Überreste einer vergangenen Zeit, die er nur noch als unnötige Last empfand. Denn die Kirche konnte immer wieder auf die Diskrepanz zwischen der mexikanischen Verfassung und der Menschenrechtserklärung der Vereinten Nationen von 1948, die auch die Religionsfreiheit einschließt, verweisen. Die UNO-Charta war auch von Mexiko unterzeichnet worden. Außerdem lebte die mexikanische Gesell- schaft in einer schizophrenen Situation. Gemessen an der Verfassung, befand man sich bezüglich kirchlicher Fragen in einem permanenten Ausnahmezustand.
Obwohl die Trennung von Kirche und Staat von der Regierung weiterhin als der oberste Grundsatz betrachtet wurde, bezeichnete die Verfassungsreform von 1992 für die Kirche eines der wichtigsten (positi- ven) Ereignisse in der Geschichte Mexikos. Fünf antiklerikale Artikel der Verfassung wurden modifiziert. Vor allem wurde der Kirche (und den Kirchen) der Status der juristischen Person wieder zuerkannt. Des Weiteren wurden Kirchenbesitz und öffentliche Kultausübung gestattet. Gemäß der geänderten Verfassung, und jetzt in Übereinstimmung mit der UNO-Menschenrechtserklärung, war eine Benachteiligung aus Glaubensgründen unrechtmäßig.
Doch dies bedeutete nicht, dass alle problematischen Themen erledigt waren. Weiterhin wurde Klerikern nicht das volle Bürgerrecht zugestanden. Zwar erlangten sie nach 1917 erstmalig das aktive Wahl- recht, doch konnten sie nur gewählt werden, wenn sie fünf Jahre von ihrem Priesteramt „zurückgetreten“ waren. Zum Vergleich: Militärs mussten nach ihrem Abschied aus der Armee nur sechs Monate warten, um das passive Wahlrecht zu erlangen. Weiterhin gab es eine staatliche Kontrollinstanz für Kircheneigentum. Falls eine Kirchengemeinde ein Grundstück kaufen wollte, musste sie eine Erlaubnis der zuständigen Behörden einholen. Das Bildungssystem blieb laizistisch. Religionsunterricht an staatlichen Schulen war weiterhin strikt verboten. Der Besitz öffentlicher Medien blieb der Kirche untersagt. (Ausgenommen Printmedien, jedoch auch diese nur mit Einschränkungen)