Von TIMO FRASCH /
In den vergangenen Jahren habe ich nur aus der Ferne auf Mexiko geschaut: Drogenkrieg, bestialische Morde, Korruption, wirtschaftliche Stagnation – das Land, in dessen Hauptstadt ich Anfang des Jahrtausends für zehn Monate studiert und eine großartige Zeit gehabt hatte, schien sich in die Richtung entwickelt zu haben, aus der Kolumbien kam. Das prägte dann auch die Vorbereitungen für meine jüngste Reise zurück in die Vergangenheit. Ich kaufte mir zum Beispiel einen dieser Geldbeutel, die man am Gürtel befestigt und zwischen Unterwäsche und Hose trägt. Vor 15 Jahren hatte ich den noch nicht. Als ich damals mit meinen Eltern, die mich besuchen kamen, mit der U-Bahn vom Flughafen zu ihrem Hotel fuhr, vor dem, wie sich später herausstellen sollte, nachts auf der Straße der Müll verbrannt wurde, da entstand im Waggon ein kleiner Tumult ohne erkennbare Ursache. Ich sagte zu meinen besorgten Eltern, im guten Gefühl, selbst schon Halbmexikaner zu sein: So ist es hier, das pralle Leben! Wenig später griff ich nach meinem Portemonnaie in der Hosentasche – weg. Bargeld weg, Kreditkarte weg, Bustickets nach Acapulco weg. Schlechter hätte der Besuch nicht beginnen können. Klischeehafter auch nicht.
Das konnte mir mit dem neuen Geldbeutel nicht mehr passieren. In Mexiko angekommen, merkte ich aber schnell, dass man dafür einen Preis bezahlen muss: Wenn man etwa vor den Augen eines mexikanischen Kellners mühsam die Pesos aus dem Hoseninneren fischt, entsteht der für beide Seiten schale Eindruck, man wähne sich hier unter Wölfen oder im Dschungel. Davon ist Mexiko trotz allem ein ganzes Stück entfernt. Man kann in dem Land nicht nur einen wunderbaren Urlaub verbringen – Bacalar! Tulum! San Cristóbal de las Casas! –, sondern auch gut leben. Zumindest dann, wenn man das nötige Geld hat und nicht gerade ein Investigativjournalist ist mit dem Spezialgebiet Drogenkriminalität. Selbst die U-Bahn von Mexiko-Stadt ist ein durchaus zu empfehlendes, praktisches und preiswertes Fortbewegungsmittel – man darf sich nur nicht so dumm anstellen wie ich.
Gut möglich jedoch, dass man sie nie benutzt – sofern man einen Mexikaner kennt, der ein Auto hat und dann mit ziemlicher Sicherheit Wert darauf legt, einem als Fahrer, Führer, Freund zur Verfügung zu stehen. So erging es mir bei meinem jüngsten Besuch. José Luis kümmerte sich nicht nur rührend um mich und meine Partnerin, er trug auch jeden Tag ein anderes Trikot einer Bundesliga-Mannschaft – zu Ehren der Besucher und des deutschen Fußballs. Dieser wird in Mexiko hochgeschätzt, spätestens seit die deutsche Nationalmannschaft mit Peter Alexander zur Weltmeisterschaft 1986 in Mexiko gesungen hatte: „México mi amor“.
Schon vor 15 Jahren trat folgender Fall öfter auf: Freunde aus dem Südosten von Mexiko-Stadt wollten eben dort feiern gehen, zusammen mit Freundinnen aus dem Norden. Deutsche würden an dieser Stelle erfahrungsgemäß sagen: Wir sehen uns im Club. Sprich: Jeder schaut, wie er dorthin kommt. Nicht so die Mexikaner. Die holen die Frauen ab und bringen sie wieder nach Hause. Insgesamt zwei bis drei Stunden Fahrt durch das nächtliche Mexiko-Stadt kamen da schon mal zusammen. Entschädigt wurde man an einem der Taco-Stände, die zum Teil rund um die Uhr geöffnet haben. An ihnen bekommt man ausgezeichnetes Essen, das freilich so gut wie nichts mit dem zu tun hat, was in Deutschland als mexikanisch verkauft wird. Trotzdem habe ich mich, wenn ich morgens um sechs Uhr übernächtigt im Fond des Autos kauerte, öfter gefragt: Warum machen die das? Dann habe ich mich bestenfalls noch als Viertelmexikaner gefühlt.
Das reichlich simple Bild, das man sich in Deutschland von den Mexikanern macht – ein irgendwie possierliches Völkchen mit großen Hüten, die aber in Mexiko kein Mensch trägt – steht im Gegensatz zu ihrer tatsächlichen Komplexität, Geheimnisfülle und Zerbrechlichkeit, an der sich nicht ohne Grund schon einige große Denker abgearbeitet haben. Der vielleicht größte unter ihnen, der mexikanische Literaturnobelpreisträger Octavio Paz, hat mal geschrieben, die jüngere Geschichte Mexikos, angefangen mit der Eroberung durch die Spanier, könne man begreifen „als ein Suchen nach uns selbst, die wir durch fremde Einflüsse entstellt oder maskiert wurden, sowie als ein Suchen nach einer Form, in der wir uns ausdrücken können“. 1910, mit der ersten großen Revolution des 20. Jahrhunderts, fand diese Suche einen eruptiven Höhepunkt. Mexiko, hin und her gerissen zwischen Europa, Latein- und Nordamerika, tauchte hinab in seine Geschichte, besann sich seiner indianischen Wurzeln, pochte auf seine eigene Identität. Aber der Versuch, die Vergangenheit mit der Gegenwart zu versöhnen, misslang. Innere Unruhen mündeten 1929 in der autoritären Herrschaft der PRI, der Partei der Institutionalisierten Revolution, die mit einer Unterbrechung von lediglich zwölf Jahren bis heute andauert und das Land ruiniert.
Der mexikanische Philosoph Samuel Ramos war 1934 der Erste, der sich ausführlich mit der Frage beschäftigte, was seine Landsleute ausmache. Ergebnis: Der Mexikaner habe einen Minderwertigkeitskomplex. Dabei waren gerade die Jahrzehnte nach 1910 von kulturellem und intellektuellem Reichtum geprägt. In der Wandmalerei, dem Muralismo, fand die mexikanische Selbstbesinnung ihre eigene Ausdrucksform. Für die europäischen Surrealisten war Mexiko, was der Nahe Osten für die Romantiker gewesen war: Inspiration, Heimat, Fetisch. Auf einer „subjektiven Weltkarte“, die sie 1929 veröffentlichten, war Mexiko übergroß dargestellt, während etwa die Vereinigten Staaten ganz fehlten. André Breton, der geistige Vater des Surrealismus, wurde 1938 von der mexikanischen Regierung in die Hauptstadt eingeladen, um dort Vorträge über Kunst zu halten. Als er in Veracruz das Schiff verließ, erging es ihm ein bisschen wie meinen Eltern in ihren ersten Stunden in Mexiko: Chaos. Die Finanzierung des Aufenthalts war unklar, die Unterbringung ebenso, zur Begrüßung kam nicht der, der kommen sollte. Breton wollte schon wieder die Rückreise antreten, als überraschend der Maler Diego Rivera auftauchte, der Ehemann von Frida Kahlo, und ihm Kost und Logis anbot. „Mein Haus ist dein Haus“, sagt man dazu in Mexiko – und meint es auch so.
Diese Erfahrung hielt Breton nicht nur nicht davon ab, in Mexiko den „surrealistischen Ort par excellence“ zu sehen, sondern bestärkte ihn sogar darin. Den Mexikanern passte das gar nicht. Sie wollten sich nicht mehr von Fremden sagen lassen, wie sie seien oder zu sein hätten. Bei Octavio Paz war das etwas anderes. Der im heutigen Mexiko-Stadt geborene Autor, der selbst eine surrealistische Schaffensphase hatte, veröffentlichte 1950 seinen zum Klassiker gewordenen Essayband „Das Labyrinth der Einsamkeit“. Darin versucht er, die mexicanidad zu ergründen, also was es bedeutet, ein Mexikaner zu sein, durchaus auch in Abgrenzung zum Koloss im Norden. Paz selbst hatte zwei Jahre in Amerika verbracht, unter anderem in Los Angeles, wo damals schon sehr viele Menschen mexikanischer Herkunft lebten. Ihn überraschte die Atmosphäre in der Stadt: „So viel Mexikanität – Vorliebe für Schmuck, Sorglosigkeit, Nachlässigkeit, Prachtliebe, Leidenschaft und Zurückhaltung – schwebt in der Luft.“ Aber sie schwebe eben nur, „denn sie vermischt und verbindet sich nicht mit der anderen Welt, der Nordamerikas, die aus Präzision und Effizienz gemacht ist.“ In den Vereinigten Staaten, schreibt Paz im Jahr 1950, sei er vor allem über die Selbstsicherheit ihrer Bewohner erstaunt gewesen, über ihre Heiterkeit und ihr „Vertrauen in das natürliche Gutsein des Lebens“ sowie „in die unbegrenzte Fülle seiner Möglichkeiten“. Die Mexikaner hingegen seien misstrauisch, verschlossen, einsam. Die einzige Form, sich der Welt zu öffnen, sei für sie die Fiesta. Die Nordamerikaner glaubten „an Hygiene, Gesundheit, Arbeit, Glück“. Dabei sei ihnen mit ihrer Vitalität, die Alter und Tod ignoriere, die wahre Freude vielleicht unbekannt. Die, so Paz in wildwuchernden Worten, sei „Rausch und Wirbel, wenn im Jubel der nächtlichen Fiesta unsere Stimme in Funken ausbricht und Leben und Tod eins werden“.
Seit Octavio Paz das geschrieben hat, sind fast sieben Jahrzehnte vergangen, vieles ist anders geworden. Er selbst rückte 1969 von der zu statischen Typologie des Mexikaners ab – notwendigerweise, denn ein so vielschichtiges Land von der Ausdehnung Belfast – Istanbul kann man unmöglich auf einen Nenner bringen. Auch die mexikanische Politik hat sich neu orientiert. Nach den bitteren Erfahrungen des 19. Jahrhunderts, als Amerika, wie Paz schreibt, „uns in einem der ungerechtesten Kriege, die die Geschichte der imperialistischen Expansion kennt, mehr als die Hälfte unseres Territoriums entriss“, hatten sich mexikanische Regierungen im 20. Jahrhundert lange in Abgrenzung zu den Vereinigten Staaten definiert. Das hat sich in den achtziger und neunziger Jahren geändert. In diese Zeit fallen radikalliberale Wirtschaftsreformen sowie der Abschluss des Nordamerikanischen Freihandelsabkommens Nafta. Beides hatte nach Ansicht des Politikwissenschaftlers Samuel Huntington das Ziel, „aus dem lateinamerikanischen Land Mexiko ein nordamerikanisches Land zu machen“. Tatsächlich haben sich die Kulturen beider Länder seither vielfach durchdrungen. Amerikanische Rentner haben sich zuhauf in hübschen Städtchen wie San Miguel de Allende niedergelassen, amerikanische Studenten kommen zum spring break nach Cancún. Ohne Mexikaner bräche in Amerika das Baugewerbe, der Weinanbau und die Gastronomie zusammen, der Tourismus würde leiden, und zwar auch deshalb, weil viele wohlhabende Mexikaner Urlaub in den Vereinigten Staaten machen.
Und dennoch: Zumindest auf mexikanischer Seite ist ein Gefühl der Fremdheit und der Benachteiligung geblieben. Man konnte das im September 2001 in Mexiko feststellen, als sich in die Erschütterung und Trauer nach den Terroranschlägen in New York bald auch Häme mischte. Der jetzige amerikanische Präsident Donald Trump verkörpert für viele Mexikaner alles Schlechte aus dem Norden. Schon als Kandidat war er ausfällig gegenüber dem Nachbarn geworden. Verschlimmert wurde das Ganze aus Sicht der Mexikaner noch dadurch, dass ihr eigener Präsident Enrique Peña Nieto, der weithin für korrupt und unfähig gehalten wird, nichts Besseres wusste, als Trump auch noch nach Mexiko einzuladen.
Der amerikanische Schriftsteller Don Winslow hat gerade im Magazin „Frankfurter Allgemeine Quarterly“ gesagt: „Ich liebe die Mexikaner, leider hatten sie noch nie eine Regierung, die ihrer wirklich würdig gewesen wäre.“ Winslow hat einerseits ganz Recht. Als im Jahr 2000 mal eine andere Partei als die weltanschaulich indifferente Machtmaschine PRI an die Regierung kam, die konservative PAN, da keimte Hoffnung, dass die Politik von der Selbstbedienung zur Problemlösung übergehen könnte – aber sie wurde bitter enttäuscht. 2006 brach der frisch gewählte Präsident Felipe Calderón einen Krieg gegen die Drogenbanden vom Zaun, der alles noch viel schlimmer machte und die PRI zurück an die Macht brachte.
Andererseits hat Winslow aber nur bedingt Recht. Denn die mexikanischen Regierungen sind nicht wie ein Gottesurteil über das Land gekommen, sondern fanden dort gute Bedingungen vor. Die mexikanische Gesellschaft war immer schon sehr hierarchisch strukturiert. Angefangen bei den Azteken über die Kolonialzeit bis hin zur Herrschaft der PRI sind die Leute daran gewöhnt worden, Entscheidungen von oben hinzunehmen, statt sich selbst zu beteiligen. Auch das irritierende Nebeneinander von brutaler Gewalt und exzessivem Lebenshunger, das der Schriftsteller Juan Villoro „Karneval in der Apokalypse“ nennt, hat in Mexiko eine gewisse Tradition. Wie schrieb Paz über die Fiesta? Sie sei ein wahnsinniges Spiel, bei dem „die Seelen knallen wie Farben, Stimmen, Gefühle“, das aber auch böse ausgehen könne. Es gebe Beleidigungen, Streit, Messerstiche, Schießereien. Hatte Breton vielleicht doch recht, als er Mexiko „das surrealistische Land par excellence“ nannte?
Darauf antwortet Villoro trocken: „Ich bevorzuge bei der Beschreibung des Landes die Mittel der Rationalität, Max Weber zum Beispiel. Er hat die Unterscheidung zwischen Gemeinschaft und Gesellschaft getroffen. Die Gesellschaft in Mexiko ist ein Desaster. Eine Gesellschaft lebt von der Einhaltung von Gesetzen, von der Neutralität der Justiz, von der Ehrlichkeit der öffentlich Bediensteten. Das funktioniert in Mexiko überhaupt nicht. Aber die Gemeinschaft, die von der Kultur lebt, den Gefühlen, den familiären Bindungen, den Zeremonien, die ist in Mexiko außerordentlich.“
Das kann ich, als Landsmann von Max Weber, nur bestätigen. Wie schön sie waren, die drei Wochen Reise zurück in die Vergangenheit, an der traumhaften Riviera Maya und im bescheidenen Heim von José Luis in Mexiko-Stadt. Das Leben hat es unserem Freund in den vergangenen 15 Jahren nicht immer leicht gemacht, sein Land auch nicht. Aber wenn die Mexikaner etwas können, dann dulden und trotzen. An einem unserer letzten gemeinsamen Abende gingen wir zusammen ins „Tenampa“, ein legendäres Mariachi-Lokal an der Plaza Garibaldi. Eine deutsche Reisegruppe kam herein und ging nach dem offenbar im Reisepreis enthaltenen Glas Tequila wieder hinaus. José Luis wollte, dass die Mariachi für mich und meine Partnerin spielen. Er werde uns einladen, sagte er. Er hätte es bei einem Lied bewenden lassen können, zumal er zur Zeit knapp bei Kasse ist. Aber er zahlte noch eins. Es war schön, mit den Mariachi, aber zwei Lieder hätten gereicht. Trotzdem zahlte er, sichtlich stolz auf die Tradition seines Landes, noch eins. Und, weil man ja nicht wisse, wann man sich wieder sehe, noch eins. Und dann noch das letzte: „La última y nos vamos.“
Man muss sie nicht verstehen, die Mexikaner, aber lieben schon.