Zurück zu den Ursprüngen: Die Bewohner Mexikos können wieder wie die Mayas, Azteken und Mixteken kochen. Wie gut die indigene Küche schmeckt, erleben Besucher in der mexikanischen Hauptstadt an jeder Ecke – ein bisschen Mut vorausgesetzt.
An seinem Stand mit prähispanischer Küche bereitet Eduardo Sánchez die Spezialitäten des Tages zu: gebratene Tarantel auf Salat, frittierte Tausendfüßer in Chilisauce, Tacos mit eingelegten Käfern und als Nachtisch: Skorpion in Schokolade am Stiel. „Hier als Snack schon mal Chapulines“, sagt Sánchez – geröstete Grashüpfer. Er reibt sie in Limettensaft und reicht sie staunenden Touristen. „Die sind besonders gesund und proteinhaltig.“
Die Touristen in der Markthalle San Juan mitten in Mexiko-Stadt blicken neugierig auf die rostbraunen Tiere. Vorsichtig beginnen sie, an ihnen zu nagen. „Knusprig“, sagt einer. „Ganz nussig“, eine andere. „Wie wär’s mit Escamoles?“, fragt Sánchez und greift lustvoll in einen Eimer voller Ameisenlarven. „Danke, das geht zu weit“, antworten die Touristen. „Zu weit?“, sagt Sánchez gespielt empört. „Das ist Teil der mexikanischen Kultur. Die Spanier verboten uns die Speisen. Wir entdecken sie wieder.“
Alta Mexicana“
Sánchez hat seinen Marktstand vor einem Jahr eröffnet, auch an Gastronomie-Institute, Fitnessstudios und die Restaurants der Starköche liefert er die proteinhaltigen Krabbeltiere. Sánchez folgt damit einem Trend in Mexiko: der Wiederentdeckung der indigenen Küche von Mayas, Azteken, Zapoteken, Mixteken. Der Trend fügt sich ein in die Wiederentdeckung prähispanischer Kunst, Architektur und Mode, die heute überall im Straßenbild der 20-Millionen-Metropole präsent ist.
Neben Lima ist Mexiko-Stadt zum kulinarischen Hauptreiseziel Lateinamerikas geworden. Was Peru mit seinen Ceviches, Anticuchos (Rinderherzen) und Pisco Sour in Südamerika ist, ist Mexiko mit seinen Moles, Pozoles (Eintöpfen) und Mezcales nördlich des Äquators: ein vielfältiges Land schier unzähliger Köstlichkeiten, das in seiner Hauptstadt alle Richtungen zur „Alta Mexicana“ zusammenführt, zur hohen mexikanischen Cuisine.
Elena Reygadas ist eine Empfängerin der essbaren Insekten, 2014 wurde sie zu Lateinamerikas bester Köchin gekürt. In ihrer eigenen Bäckerei stellt sie gerade das neue Menü für ihr Restaurant „Rosetta“ zusammen. Es steht in einer belaubten Seitenstraße in Roma Norte, einem der vielen Stadtteile, die mit kunstvollen Läden, farbenfroher Mode und Plätzen voller Streetfood die Touristen anziehen. Auch Reygadas hat Chicatanas auf der Speisekarte, fliegende Ameisen, („erdig, trocken“), und Cocopaches, eine Art Kakerlake („außen knusprig, innen weich“). „Regionale Küche“, sagt sie, „wie alles bei mir.“
Als Kind schon ist Reygadas mit ihrem Vater auf die Suche nach den mehr als 300 essbaren Insektenarten Mexikos gegangen. Inzwischen haben sich Insektenjäger im ganzen Land auf den kulinarischen Trend spezialisiert. Eine Tarantel kostet umgerechnet 25 Euro, Ameisen mit großen Flügeln sogar 400 Euro pro Kilo. Laut Welternährungsorganisation sind Insekten nicht nur gesund und sehr eiweißhaltig, ihr Verzehr ist auch besser für den Planeten.
Die Attraktionen von Mexiko-Stadt sind die prähispanischen Schätze
Reygadas hat in London und New York gelebt, aber die mexikanische Küche, findet sie, „ist die interessanteste. Mexiko ist so reich, so vielschichtig, von Karibik bis Pazifik, vom Hochland bis in die Tropen.“ Man könne Mexiko über die Pyramiden der Ureinwohner kennenlernen, über Frida Kahlos Kunst, aber eben auch über das Essen vom tropischen Yucatán bis in die Berge Oaxacas. „In allem steckt ein großer Teil präkolumbischer Kultur.“
Mexiko leidet unter seinem schlechten Image – Gewalt, Korruption, Drogenhandel –, aber die Hauptstadt auf über 2200 Meter Höhe ist für Reisende relativ sicher. Die Gewalt spielt sich vor allem in den Armenvierteln ab. Mexiko-Stadt hat heute erstklassige Filmemacher, Literaturfestivals, Ausstellungen – und neue Sounds, in denen sich traditionelle Cumbia- und Ranchera-Musik mit den Chören indigener Frauen mischt. „Das neue Mexiko ist komplett inspiriert durch das alte Mexiko. Es gibt ein Wort dafür: Mexikanität“, sagt Israel Gómez von der Popband Centavrvs. „Die Ausländer lieben unsere Strände, Pyramiden, Menschen, Gerichte. Es war an der Zeit, dass wir uns genauso wertschätzen.“
Die Mexikanität findet vor allem Ausdruck in Mode und Design und lässt sich beim Straßenbummel bewundern: Indianische Textilien sind nicht mehr Souvenirware für Touristen, sondern Teil der neuen Mode, wie sie schon Frida Kahlo trug. Der Begriff „ethnisch“ ist kein Schimpfwort mehr. In ihrer Suche nach Authentizität verkaufen Designer und Künstler heute Bettwäsche mit Maya-Symbolik oder feine Schals in indigenen Farben und haben Stadtteile wie Roma, Condesa, Del Valle zu angesagten Vierteln gemacht.
Die Hauptattraktionen von Mexiko-Stadt bleiben die prähispanischen Schätze, die Pyramiden und Tempel der Ruinenstadt Teotihuacán, einst größte Stadt des amerikanischen Kontinents. Und das Nationalmuseum für Anthropologie, in dem man sich tagelang verlieren kann zwischen Relikten der Mayas, Azteken und Tolteken. Ebenso magisch ist ein Streifzug durch das koloniale Viertel Coyoacán, auf den Spuren von Diego Rivera und Frida Kahlo. Das Künstlerpaar sammelte präkolumbische Exponate und ließ sich in seiner Arbeit von Formen und Farbenpracht der Ureinwohner inspirieren. Heute zählen rund 26 Millionen Menschen dazu.
Zum Nachtisch hausgemachte Paletas
Coyoacán mit seinen bunten Häusern und bewachsenen Plazas ist eine Oase in dieser lauten, staubigen Metropole und ein exzellenter Stopp für Streetfood: Tamales, Tacos, Burritos – nicht in der milden, europäisierten Version, sondern aus blauem oder weißem Mais, mit viel Chili, Koriander und Limetten. Und zum Nachtisch hausgemachte Paletas, mexikanisches Eis am Stiel aus echten Früchten.