Jesus – Der Herausforderer

Dieser Artikel stammt aus der ZEIT Nr. 2 vom 5.1.2017.

Zu einem Vorbild schaut man auf. Das mache ich, seit ich ein Kind bin. Ich wuchs in einem kleinen Ort im Sauerland auf. Eine riesige katholische Kirche, hoch aufragende Neugotik, das ist meine Heimat. Acht Jahre lang war ich Messdiener, trug Kerzen, schwenkte das Weihrauchfass, kniete während der Eucharistiefeier am Altar, und immer, wenn ich nach oben blickte, sah ich ihn: seinen geschundenen Körper, sein zerfurchtes Gesicht, seinen leeren Blick. Die Rippen sprangen ihm aus dem abgemagerten Leib: Jesus, der Retter der Welt, gemartert am Kreuz.

Was für eine unglaubliche Geschichte! Was für ein Anspruch für jeden, der dem Sohn Gottes nachfolgen will! Und das wollte ich. Ich war doch Christ. Und bin es noch immer.

Jeden Sonntag gingen wir in die Kirche, meine Eltern, meine Schwester und ich. Als mein Vater zum Ständigen Diakon geweiht wurde, war ich elf. An Fronleichnam zogen wir hinter der Monstranz durch die Straßen, wir sangen und beteten. Zu Weihnachten spielten wir Kinder im Gottesdienst die Weihnachtsgeschichte nach.

Ich hörte die Geschichten aus der Bibel und lernte Jesus kennen. Als Kind verstand ich: Dieser Mann beschützt mich, ihm kann ich mich anvertrauen, bei ihm kann mir nichts passieren. Ich lernte aber auch: Dieser Mann will etwas von mir, er verlangt, dass ich für andere da bin, meinen Nächsten liebe und sogar meinen Feind. Als kleiner Junge fand ich das nicht so schwierig. Feinde hatte ich nicht, und meine Nächsten bestanden aus Familie und Freunden. Das war zu schaffen.

Als ich erwachsen wurde, stellte ich fest: Das Leben mit meinem Vorbild wird komplizierter. Warum lässt Gott Menschen elend sterben? Warum tut er nichts gegen all die Schrecken auf der Welt? Unfassbar! Ich wurde traurig, manchmal wütend – und ich begann zu zweifeln.

Es gab Tage, an denen ich gar nicht mehr glauben wollte. Zu grausam war, was geschah. Aber ich konnte auch nicht aufhören zu hoffen. Kann es nicht sein, dass wir Menschen den freien Willen missbrauchen, den Gott uns geschenkt hat? Dass wir den Willen nutzen, um anderen zu schaden? Und ist es nicht Jesus, der mir als Einziger allumfassenden Halt schenkt? Nein, Jesus ging nicht fort. Er gehörte weiter zu mir. Mit ihm rang, zu ihm betete ich.

Ich suchte nach Antworten: Wie will ich leben? Wer leitet mich? Ich fand Antworten dort, wo ich im Innersten berührt wurde, bei Jesus. Wenn Gott ihn auf die Erde geschickt hat, um die Menschheit zu retten, dann auch, um mich zu retten. Das ist, so formulierte es später mein Professor im Theologiestudium, die „positive Hypothese des Lebens“. Ich glaube, also sehe ich einen tiefen Sinn in den Dingen. Ohne Jesus gäbe es für mich keine Idee von Gerechtigkeit und keine Zukunft. Ohne ihn erschiene mir alles schal und vordergründig. Ohne ihn, das spürte ich, kann ich nicht sein.

Es gab nicht diesen einen Moment, in dem ich beschloss, Jesus zum Vorbild zu nehmen. Er wurde es, weil ich mich nach ihm ausrichtete. Weil ich leben wollte, was er predigte: Keine Gewalt. Anderen Menschen etwas geben und nichts dafür verlangen. Mich selbst nicht so wichtig nehmen. Auf Gott hören, mit ihm sprechen, ihn bitten.

Ich fand meinen Frieden im stillen Gespräch mit Jesus. Aber ich muss zugeben: Das ist nur die eine Seite. Denn mein Vorbild gibt mir nicht nur viel. Es verlangt auch eine Menge von mir – wesentlich mehr, als ich mir früher vorstellte.

Dieser Jesus ist ein echter Klotz am Bein!

Der Jesus, den ich in der Bibel fand, ist kein entrückter Gottessohn, der über den Dingen schwebt. Dieser Jesus ist ein Mensch, der lebt und liebt, enttäuscht ist und wütet, einer, der lehrt und belehrt – und manchmal auch einer, der aus Angst zu seinem Gott hinaufschreit. Einer, der mich aufwühlt.

Es gibt Erzählungen über ihn, die mich glücklich machen: wenn Jesus die Ordnung der Welt durcheinanderwirbelt und nicht die Ungerechtigkeit siegt, sondern die Gerechtigkeit. Es gibt auch Erzählungen, die mich stärken: wenn Jesus sanft zu seinen Jüngern ist und freundlich zu den Menschen, die ihn umgeben. Dann fühle ich mich ihm nahe.
Und gibt es solche Passagen wie im Evangelium nach Lukas: „In jener Zeit sprach Jesus zu seinen Jüngern: Man wird euch festnehmen und euch verfolgen. Man wird euch um meines Namens willen den Gerichten der Synagogen übergeben, ins Gefängnis werfen und vor Könige und Statthalter bringen. Dann werdet ihr Zeugnis ablegen können. Nehmt euch fest vor, nicht im Voraus für eure Verteidigung zu sorgen; denn ich werde euch die Worte und die Weisheit eingeben, sodass alle eure Gegner nicht dagegen ankommen und nichts dagegen sagen können. Sogar eure Eltern und Geschwister, eure Verwandten und Freunde werden euch ausliefern, und manche von euch wird man töten. Und ihr werdet um meines Namens willen von allen gehasst werden. Und doch wird euch kein Haar gekrümmt werden. Wenn ihr standhaft bleibt, werdet ihr das Leben gewinnen.“

Ich lese das, und es schaudert mich. Ich sitze da, starre auf mein iPhone – ja, ich lese das Evangelium meist in einer App –, und ich werde herausgeschleudert aus allen Alltagsgedanken: Was kauf ich zum Essen, Chili kann ich nicht schon wieder machen … Zuerst die Wäsche aufhängen oder erst staubsaugen? … Und ich will unbedingt noch Oma anrufen, aber wann?

In diese Gedanken bricht Jesus mit Gewalt ein, seine Forderungen sind brutal: Gehasst werden. Sehen, wie Familienmitglieder ausgeliefert und getötet werden. Selbst verraten werden, von Menschen, denen ich vertraue. Ich weiß: In diese Lage sind andere schon gekommen. Was, wenn es auch mir widerfährt? Kann ich da standhaft bleiben? Würde ich das in einer solchen Drucksituation schaffen? Ich fürchte: nein. Weil es eine verdammte Überforderung ist!

Andererseits denke ich: Wachsen kann ich nur an dem, was unerreichbar erscheint. Am Extremen. Am Existenziellen. Die Überforderung macht mich wach, zeigt mir, was wichtig ist. Sie macht mich lebendig.

So bin ich in meinen Gedanken ständig im Kontakt mit einem Gegenüber. Es ist ein permanentes Nach-außen-Schauen, ein Nicht-Verharren im Eigenen, den Blick stets auf den anderen gerichtet, den Blick auch auf den, der auf andere geblickt hat: Jesus.

Jetzt könnte man einwenden: Dieser Jesus ist ein echter Klotz am Bein! Aus den Christen kann nichts werden, sie können nie frei leben, sich nie ganz hingeben! Der Philosoph Friedrich Nietzsche (ein Pfarrerssohn) hat solche Gedanken in furiose Worte verpackt: Kein vollendeter Rausch! Kein Handeln ohne hehre Hintergedanken! Kein dionysischer Moment!

Meine Erfahrung ist eine andere. Ja, ich bin abhängig. Und das auch noch von jemandem, der mich überfordert. Dem ich nicht entkomme, der mich einschränkt und in gewisser Weise kontrolliert.

Es ist aber erst diese Abhängigkeit, die mir Freiheit schenkt von vielen Anforderungen der Gesellschaft. Es plagt mich nicht, wie viel Geld ich verdiene, wo ich wohne, wie supertoll erfüllend mein Job ist, ob ich großartig auftrete, ob ich jedem gefalle. Was mich ausmacht, ist allein die Antwort auf die Frage, wie ich zu meinen Mitmenschen bin. Ob ich ihnen zum Segen werde.

Jesus dreht alle Vorzeichen um. Die Letzten werden die Ersten sein, den Armen und Einfältigen gehört das Himmelreich. Jeder kennt diese Sätze. Das macht sie nicht weniger verrückt. Sie widersprechen jeder Logik der Macht und Gewalt, sie unterwandern diese Logik und zersetzen sie.

Deshalb glaube ich, dass ich ein wahrhaft menschliches Leben nur leben kann, wenn ich Jesus folge. Er schenkt mir Ruhe, indem er mich niemals in Ruhe lässt.

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