Vor 100 Jahren wurde aus Jeanne d‘Arc die heilige Johanna

Von Alexander Brüggemann, KNA /

Man stelle sich vor: Eine 16-jährige Bauerstochter aus einem winzigen Dorf irgendwo bei Dessau würde im Kanzleramt vorgelassen und erläuterte Angela Merkel klipp und klar, sie höre Stimmen und müsse Merkels Bundeswehr demnach unverzüglich gegen England führen, um dann die Kanzlerin zur Königin Europas krönen lassen zu können. Merkel lässt es geschehen, Verteidigungsministerin Annegret Kramp-Karrenbauer auch. Und das Mädchen landet Siege.

Herrschaftsstrukturen und -ausübung haben sich in sechs Jahrhunderten geändert. Aber im Prinzip lief es so ab: Jeanne Darc (später, rehabilitiert und geadelt: d‘Arc), 16-jährige Bauerntochter aus Domremy in Lothringen, überzeugt im Frühjahr 1429 in Chinon an der Loire den flügellahmen Dauphin Charles, Frankreichs Thronfolger, nach fast 100 Jahren Krieg seine Truppen gegen die übermächtigen Burgunder und Engländer zu führen. Sie erhalte ihre Befehle von der heiligen Katharina, dem hei- ligen Michael und der heiligen Margarete, deren Stim- men sie höre.

Die historische Kurzversion: Sie bekommt, eigentlich unglaublich, den Marschbefehl, reitet in Männerkleidern gegen das besetzte Orleans – und siegt, obwohl sie von einem Pfeil getroffen wird. Im Juli 1429 wird – wie von ihr vorhergesagt – der Dauphin als König Karl VII. in der Kathedrale von Reims gekrönt. Es folgen Hofintrigen und Verzögerungen; der König will sie nicht gegen das besetzte Paris ziehen lassen. Als sie es am Ende doch darf, scheitert sie militärisch, wird verraten, gerät im Mai 1430 in burgundische Gefangenschaft, wird an die Engländer ausgeliefert. Ihre letzte Lebens-station: Rouen, Hauptstadt der Normandie, wo man heute noch viele Schauplätze von 1431 in einem regelrechten Parcours abgehen kann: zwei ihrer mittelalterlichen Gefängnisse, Orte der Demütigung und peinlicher kirchengerichtlicher Verhöre; den Gerichtssaal im alten Bischofspalast, wo spitzfindige Theologen die ungebildete Magd in die Enge trieben. Schließlich ihre Richtstätte am Marktplatz der Stadt. 30. Mai 1431: Johanna, die Siegerin von Orleans, brennt in Rouen auf dem Scheiter- haufen, als vermeintlich überführte Ketzerin. Ihre Asche wird in die Seine gestreut, um keine möglichen Reliquien zu hinterlassen.

Wo die „heilige Jungfrau“ starb, erhebt sich heute die eindrucksvolle Johanna-Kirche aus dem Jahr 1979, eingeweiht durch den damaligen Staatspräsidenten Valery Giscard d‘Estaing. In den unkonventionellen Raum hat Architekt Louis Arretche 13 prächtige Glasfenster aus dem 16. Jahrhundert integriert. Schräg gegenüber der Richtstätte liegt „Die Krone“ (La Couronne) aus dem Jahr 1345, das angeblich älteste Gasthaus Frankreichs. Die Hauptstadt der Normandie hat längst ihren Frieden mit ihrem berühmtesten Opfer gemacht. Schon 1456, nach Kriegsende, wurde der Prozess von 1431 wegen Formfehlern neu aufgerollt, die Hingerichtete rehabilitiert und ihre Familie geadelt. Johanna von Orleans, Jeanne d‘Arc, Jeanne la Pucelle, mit 19 Jahren verbrannt, ist heute ein Kapital der Stadt, ein attraktiv aufbereitetes touristisches Produkt.

Auch die Kathedrale ist ein historischer Schicksalsort, an dem sich nationale Identität und französische Monarchie durch den Tod der Johanna verdichten. Seit 2015 ist der Bischofspalast Heimstatt des „Historial Jeanne d‘Arc“, das mit modernster Projektionstechnik – so suggestiv wie informativ – durch das kurze Leben und das lange Wirken der Johanna führt. Zeugen und Protagonisten der Prozesse von 1431 und 1456 erzählen, auf die Gemäuer projiziert, ihre Version. Beklemmend die Kunstinstallation im Innenhof: die Richter von einst, grobe schwarze Holzklötze in Drohposen.

Sehr spät, im 19. Jahrhundert, wurde unter den Vorzei- chen des Ringens zwischen politischem Katholizismus und liberalem Laizismus der Heiligsprechungsprozess für Jeanne d‘Arc eröffnet. Zugleich betrieb die politische Linke Frankreichs die Einrichtung eines Nationalfeiertags zu ihren Ehren. 1909 erfolgte die Seligsprechung, am 16. Mai 1920, als sich das laizistische und antiklerikale Klima beruhigt hatte, die Heiligsprechung. Poli- tische Instrumentalisierungen begleiten Johanna durch die Jahrhunderte. Katholische Monarchisten betonten ihre tiefe Frömmigkeit und ihre Nähe zur Gottesmutter. Antiklerikale und Republikaner unterstrichen ihren Mut gegenüber der Obrigkeit, ihre Liebe zu Frankreich und ihre einfache Herkunft. Im Zweiten Weltkrieg versuchten sowohl der Widerstand als auch das Vichy-Regime, ihren Mythos für sich zu vereinnahmen.

Schreibe einen Kommentar

Trage deine Daten unten ein oder klicke ein Icon um dich einzuloggen:

WordPress.com-Logo

Du kommentierst mit deinem WordPress.com-Konto. Abmelden /  Ändern )

Facebook-Foto

Du kommentierst mit deinem Facebook-Konto. Abmelden /  Ändern )

Verbinde mit %s

Diese Seite verwendet Akismet, um Spam zu reduzieren. Erfahre, wie deine Kommentardaten verarbeitet werden..