VON AIREN / FRANKFURTER ALLGEMEINDE SONNTAGSZEITUNG
Francisco Cantú, Enkel mexikanischer Einwanderer, patrouillierte vier Jahre lang an der amerikanischen Grenze. Jetzt hat er ein Buch über den Alltag im Ausnahmegebiet geschrieben.
Was ist das eigentlich, die Grenze? Immer wieder hört der junge Amerikaner Francisco Cantú diesen Begriff an der Universität, wo er Internationale Beziehungen studiert. Irgendwann reicht ihm das Buchwissen nicht mehr, mit Anfang zwanzig meldet er sich bei der Border Control, dem berüchtigten Grenzschutz der Vereinigten Staaten. „Ich will vor Ort sein“, erklärt er seiner skeptischen Mutter, selbst Tochter mexikanischer Einwanderer. „Ich will die Praxis erleben, den realen Alltag an der Grenze. Ich weiß, dass es hässlich sein kann, dass es gefährlich sein kann, aber ich weiß keinen besseren Weg, die Grenze wirklich zu verstehen.“
Über seine vier Jahre als Grenzpolizist in Arizona, New Mexico und Texas hat Cantú, heute 33, ein Buch geschrieben: „No Man’s Land – Leben an der mexikanischen Grenze“. Sein Bericht ist der Versuch, jene abstrakten Begriffe aus den Nachrichtensendungen und Zeitungsartikeln mit Leben zu füllen: Menschenschmuggel, Abschiebung, Migration. Für den Autor, der fließend Spanisch spricht, ist die Grenze etwas, dem er sich stellen muss: „Vielleicht ist es der Konflikt zwischen den beiden Kulturen, die wir in uns tragen“, sagt er. „Jedenfalls werde ich es nur verstehen, wenn ich es unmittelbar erlebe.“
Dem Tod näher als dem Leben
Also durchläuft er die harte Grundausbildung und tritt seinen Dienst an, in Texas, wo Flüchtlinge aus Mittelamerika tagelang durch die Wüste marschieren, weil ihnen sonst jede wegsame Route versperrt ist. Mit seinem Streifenwagen patrouilliert er durch die Geisterdörfer entlang der Grenze, einer unwirtlichen Gegend aus Wüstentälern und Canyons, wo im Schatten der Mesquitebäume Schlangen und Nasenbären krauchen. Er lernt, das Gelände zu lesen, Spuren zu verfolgen, tastet mit dem Nachtsichtgerät den Horizont ab, immer auf der Suche nach Menschen, die illegal ins Land kommen. Das sind meist arme Schlucker, die vor dem Morden südlich der Grenze fliehen, wo rivalisierende Kartelle die Bevölkerung terrorisieren.
„Schmuggler, Scouts, Mulis, Schlepper“, beschreibt er diejenigen, die ihm in die Fänge gehen. „Aber vor allem habe ich Migranten geschnappt, Leute, die sich ein besseres Leben aufbauen wollten.“ Denn die Menschen, die er aufgreift, verschwitzt und ausgelaugt vom tagelangen Fußmarsch durch die Wüste, sind meist Verzweifelte, deren einziges Verbrechen es ist, im Norden nach Arbeit zu suchen. Drogenschmuggler gehen ihm selten ins Netz, die gehen routinierter vor, haben Nachtsichtgeräte und Beobachtungsposten, die sie per Funkgerät an den Stellungen der Grenzer vorbeilotsen.
Zum Job des Grenzschützers gehört es immer wieder, verirrte Flüchtlinge aus den Sanddünen zu retten, oftmals dem Tod näher als dem Leben. Viele sind orientierungslos, haben seit Tagen nichts anderes getrunken als ihren eigenen Urin; in Hubschraubern fliegt man sie ins Krankenhaus, wo man ihre geschrumpften Nieren aufpäppelt, bevor sie abgeschoben werden.
Albträume verfolgen ihn
Eine erbarmungslose Wirklichkeit also; seine Kollegen von der Border Patrol, harte Burschen, viele von ihnen selbst mit Latino-Wurzeln, sind irgendwann abgestumpft von der Vielzahl der Schicksale. Sie jagen Flüchtlinge, bis die sich in der Wüste verstreuen, und verschütten dann deren Trinkwasser, bloß keine Festnahmen, heißt es, denn das bedeutet Papierkram. Cantú fragt sich, „was für ein Polizist man ist, was für ein Polizist man werden will, aber es stimmt schon, dass wir das Trinkwasser auf die ausgedörrte Erde kippen und die Flaschen zertreten, dass wir ihre Rucksäcke, das Essen und die Anziehsachen zusammentragen und darauf herumtrampeln und daraufpinkeln, sie in der Wüste verteilen und anzünden“. Was macht diese Arbeit mit einem Menschen? Cantú plagt zunehmend das schlechte Gewissen, Albträume verfolgen ihn, die Hände zittern, nachts knirscht er mit den Zähnen.
Die Uniformierten, lauter Rassisten und Sadisten? „Bei den Grenzpolizisten und Vollzugsbeamten“, lässt er einen Flüchtlingsanwalt sagen, „hat man manchmal den Eindruck, dass sie keinen Funken Menschlichkeit mehr in sich haben. Ich habe praktisch noch nie erlebt, dass diese Leute sich human verhalten, Mitgefühl zeigen.“
Zerstörerische Maschinerie
Cantú macht sich diese Sichtweise nicht zu eigen. Eine der großen Stärken des Buchs ist es, dass es das Menschliche auf beiden Seiten zeigt. In einer Szene beschreibt Cantú, wie sich Grenzer und Migranten als Menschen begegnen, wie sie nach einer Festnahme in der kargen Landschaft beisammen stehen, vom landestypischen Proviant probieren, den die Aufgegriffenen in ihren Habseligkeiten bei sich trugen. Bevor es weitergeht und die Wegzehrung weggeschmissen werden muss – Vorschrift ist Vorschrift.
Irgendwann muss er sich eingestehen, dass er den Job nicht weiter machen kann. Er beendet sein Studium, arbeitet nebenbei in einem Coffeeshop. Dort lernt er den Mexikaner José kennen, einen Familienvater, seit dreißig Jahren illegal in den Vereinigten Staaten. Als der von einer Reise zu seiner todkranken Mutter in Mexiko zurückkehrt, wird er festgenommen. Cantú ergreift Partei. Er besucht Gerichtsanhörungen, unterstützt die Frau und die drei Kinder des Freundes. Weil die Mutter sich ebenfalls illegal im Land aufhält, ist es Cantú, der die Kinder zu den Besuchsterminen begleitet, in ein privatisiertes Abschiebegefängnis, wo der Vater hinter Nato-Draht auf die Deportation wartet. Am Ende schiebt man ihn tatsächlich ab. Eine „zerstörerische Maschinerie“ nennt der ehemalige Grenzer den Abschiebeprozess nun und fragt sich „ob es mir wirklich nur darum ging, ob ich Buße tun wollte für all die Menschen, die ich zurückgeschickt hatte, ob es der Versuch einer Wiedergutmachung war“.
Die Stimme des Gewissens
Das Buch zumindest, das er in den Jahren danach geschrieben hat, ist der Versuch, mit sich selbst ins Reine zu kommen, sich, der in beiden Kulturen zu Hause ist, zu positionieren gegenüber der Trennungslinie, jenem sonderbaren Konstrukt, das er immer wieder zu greifen versucht. Er beschreibt den Grenzraum als eine Zwischenwelt, in der zwei Sprachen, zwei Kulturen, zwei Welten aufeinandertreffen, sich mal vermengen, mal voneinander abkapseln, wo die Amerikaner mexikanisch essen und die Mexikaner vom American Way of Life träumen und dennoch beide immer wieder mit großem Misstrauen aufeinanderblicken.
Die vier Jahre als Grenzpolizist sind an Cantú nicht spurlos vorbeigegangen. Seine Mutter, die im Buch immer wieder die Stimme des moralischen Gewissens einnimmt, hält ihm mit Blick auf den abgeschobenen Freund vor: „Du weißt genau, was es heißt, jemanden zurückzuschicken. Du weißt, warum er nicht da ist, warum er nicht bei seiner Familie ist. Das alles ist dir vertraut, es ist ein Teil von dir geworden.“ Beim Versuch, das Phänomen Grenze zu verstehen, hat er sich zum Komplizen gemacht.
Bei aller Selbstzermarterung spart Cantú nicht mit Kritik an einem Einwanderungssystem, das Menschen in die Hände mexikanischer Kartelle treibt, für die Flüchtlinge nicht mehr sind als eine Ware, die sie gnadenlos ausbeuten. Und auch wenn es kein politisches Buch ist, liest man „No Man’s Land“ immer mit dem Wissen, dass die Dinge in den Jahren nach Cantús Dienstzeit – er hat seinen Einsatz 2012 beendet – nicht besser geworden sind. Die Härte der Trump-Regierung wirft schon ihre Schatten voraus.
„No Man’s Land“ ist kein spröder Bericht, sondern eine behutsam erzählte Schilderung. Mit seiner nüchternen Poesie, mit seinem Blick, der nach innen und nach außen wandert, haucht Cantú der Grenzgegend Leben ein. Man ist mit dabei, wenn er mit seiner Mutter die mexikanische Grenzstadt Ciudad Juárez durchstreift, wenn er auf Patrouille ist in der menschenleeren Gegend nördlich des Río Bravo, spürt das Jagdfieber, wenn die Sensoren anschlagen und sich plötzlich Silhouetten am Horizont abzeichnen.
Das Buchcover zeigt einen Grenzzaun, der sich wie ein hässlicher Riss durch die Landschaft zieht, eine trockene Sierra mit Kakteen und fernen Hügeln, trotzdem von schlichter Schönheit. Dass dieser Riss Spuren in den Menschen hinterlässt, in den Anwohnern, den Grenzern und jenen, die ihn überqueren, hat Francisco Cantú in seinem Erstlingswerk virtuos sichtbar gemacht. Ein Buch von der vordersten Front.