Kampf um die Köpfe

aus FAZ 27.12.2017, Text: AIREN Fotos: EUNICE ADORNO / 

Wie eine mexikanische Schule in der Wiege der Kartelle die Kinder vor einer Karriere als „Narcos“ rettet.

Ramón Carrillo sitzt auf einem Schemel vor seinem Haus und schaut über die kargen Berge. „Ich werde dir sagen, was ich von meinem Vater geerbt habe“, sagt der kraushaarige Mann. „Eine Neun-Millimeter-Pistole, ein AR-15-Sturmgewehr, eine Kalaschnikow und einen nagelneuen Pick-up.“ Ramón war elf, als die Kugeln eines Konkurrenten seinen Vater durchsiebten, einen einflussreichen Drogenhändler in Surutato.

Heute lehrt Ramón Kinder, dass ein Leben jenseits der Welt der Kartelle möglich ist. Als einer von rund dreißig Lehrern unterrichtet er am Centro Educativo Justo Sierra (Cejus), einem einzigartigen Schulprojekt, hervorgegangen aus einer Gemeinschaft, die der Staat längst aufgegeben hatte.

Nach dem Tod seines Vaters schickte Ramóns Mutter ihn auf die Bergschule, seit 15 Jahren arbeitet er selbst am Cejus. Viele Kollegen haben eine ähnliche Geschichte erlebt, haben Brüder, Cousins oder Ehemänner an den Drogenkrieg verloren. Von den zwanzig weiblichen Mitgliedern des Kollegiums sind fünf verwitwet. „Wir sind gezeichnet“, sagt Carrillo. „So viele sind schon gestorben.“

Hinter den Hügeln vor seinem Haus liegt eines der größten Drogenanbaugebiete der Welt: Im „Goldenen Dreieck“ zwischen den Provinzen Durango, Chihuahua und Sinaloa gedeihen Schlafmohn und Hanf, entstehen tonnenweise Drogen vor allem für den amerikanischen Markt. Der Landkreis Badiraguato, in dessen Ausläufern sich Surutato befindet, gilt als Wiege der Kartelle. Der Arellano-Félix-Clan und sein Tijuana-Kartell – aus Badiraguato. Die Beltrán-Leyva-Brüder und ihr Südpazifik-Kartell: geboren in Badiraguato. Amado Carrillo, dessen Aufstieg zum Boss des Juárez-Kartells in der Telenovela „Señor de los Cielos“ verewigt wurde – kam nicht weit von hier zur Welt.

Berühmtester Sohn der Gemeinde aber ist ein kleiner Mann mit Schnauzbart: Joaquín „El Chapo“ Guzmán, Ausbrecherkönig und bis zu seiner Verhaftung im Januar 2016 auf der Liste der meistgesuchten Männer des FBI. Sein Sinaloa-Kartell ist eine der mächtigsten kriminellen Organisationen der Welt. Doch während das Magazin „Forbes“ das Vermögen des Kartellbosses auf über eine Milliarde Dollar schätzt, versinkt seine Heimat in Armut.

In den letzten fünfzehn Jahren hat der Landkreis Badiraguato ein Viertel seiner Einwohner verloren, rund 30.000 sind es noch. Wer geblieben ist, arbeitet für die Kartelle. Ramón Carrillo, der Lehrer, der nicht in die Fußstapfen seines Vaters treten wollte, schätzt, dass acht von zehn Menschen im Ort auf die eine oder andere Weise ins Drogengeschäft verwickelt sind.

Etwa 150 Kilometer liegen zwischen Sinaloas Hauptstadt Culiacán und Surutato. Dazwischen wartet eine karge Steppe, in der sich das Militär hinter Sandsäcken verschanzt. Und dann das: Italienische Villen wachsen aus dem Staub unscheinbarer Dörfer, hinter hohen Mauern blühen prachtvolle Palmengärten. Geld spielt hier keine Rolle – bei einigen wenigen. Ihrer protzigen Architektur bleiben die Narcos bis in den Tod treu: Am Straßenrand erzählen zahllose pompöse Kapellen von Hinterhalten oder Exekutionen, die hier stattfanden. Sinaloa ist das vielleicht idyllischste Kriegsgebiet der Welt.

Entlang der Hauptstraße von Surutato gibt es eine Tankstelle, eine Reifenwerkstatt, eine Kirche und eine Apotheke, die zugleich als Internetcafé dient. Das Cejus, Ramóns Schule, liegt inmitten eines großen Campus am Ortsrand. Holzhäuser stehen verstreut im Kiefernschatten, rund 130 Schüler aus Surutato und Umgebung lernen hier, die Hälfte von ihnen im Internat. Die Ausbildung reicht vom Kindergarten bis zum Abitur, wer will, kann danach Hochschulkurse belegen, seit neuestem betreut das Cejus eine Art Doktorgrad.

An diesem Morgen kehren drei Mädchen in Schuluniform das Basketballfeld, im Speisesaal verteilen Schüler mit Schöpfkellen Kutteln und Mais. „Das Cejus verfolgt zwei Ziele“, erklärt Francisco López am Lehrertisch. „Die Erziehung mündiger Individuen. Und ein Faktor des Fortschritts in der Region zu sein.“

Der 49-Jährige ist einer der Koordinatoren des Cejus, einen Schuldirektor gibt es nicht, man versteht sich als Gemeinschaftsprojekt. Es gibt keinen Hausmeister und keine Köche; von Anfang an sollen die Kinder lernen, Verantwortung zu übernehmen. Sie putzen und kochen selbst, arbeiten im Gewächshaus oder im Schweinestall, drei Mal am Tag backen sie ihre eigenen Tortillas.

„Wir sind Eltern und Freunde, Ärzte und Psychologen in einem“, sagt López. Auch deshalb biete das Cejus keinen Frontalunterricht, man setze auf die Eigeninitiative der Kinder. Die Schüler erarbeiten ihre Themen gemeinsam mit den Lehrern, sie strukturieren Lehrpläne und besorgen das Unterrichtsmaterial.

López führt in ein grün gestrichenes Blockhaus, vor dem strahlend weiße Aronstäbe blühen. In dem Klassenzimmer sitzen rund zwanzig Schüler der zehnten und elften Klasse in Lerngruppen zusammen. Auf einem Tisch liegen Pflanzenteile und Bestimmungsbücher, die Gruppe behandelt den Gebrauch regionaler Heilkräuter. Am Nachbartisch übersetzen die Jugendlichen mit Hilfe ihrer Handys einen Text ins Englische. Und weil zwei Wochen zuvor ein Mitschüler bei einem Motorradunfall ums Leben kam, bespricht eine weitere Gruppe das Thema Sicherheit im Straßenverkehr.

„Wir erschließen Themen, die im direkten Zusammenhang mit den Lebensumständen der Kinder stehen“, erklärt López. „So bereiten wir sie auf das Leben in der Region vor.“

Nebenan liegt der Raum der fünften und sechsten Klasse, an den Wänden erzählen handgemalte Bilder die Geschichte Surutatos. Eine Schülerin bespricht ihre Hausaufgaben mit dem Lehrer, die restlichen Schüler lesen. Der Mann hinter dem Pult ist Ramón Carrillo, der Aussteiger. Er ist einer der wenigen hier, die explizit auch über die dunkle Seite der Region sprechen.

„Das Böse hat eine ungeheure Anziehungskraft“, sagt Carrillo. Wie alle hier umschreibt er das allgegenwärtige Drogenbusiness in Chiffren, spricht vom „Bösen“, dem „anderen Geschäft“, die Narcos nennt er „innombrables“ – „Unnennbare“.

Es sei ein Kampf um die Köpfe der Kinder, denn die Jungen würden sehen, wie ihre Altersgenossen mit Drogenhandel zu schnellem Geld gelangen, wie der Cousin ein neues Auto fährt, während sie sich durch die Schule kämpfen. Immer wieder würden Kinder im Unterricht fehlen, weil sie bei der Ernte helfen müssten, mit ihren schlanken Körpern seien sie für die Arbeit in den beengten Pflanzungen besonders geeignet.

Die Schüler tragen T-Shirts mit dem Symbol des Cejus, zwei ineinandergreifende Hände, die eine Taube formen. „Solidarität und Frieden“ soll das bedeuten, es beschreibt aber auch ganz gut die Scharnierfunktion, die die Schule einnimmt: Da sind die Opiumbauern, die kleine Plantagen bewirtschaften und aufs große Geld hoffen. Und da ist der Staat, der mit einer Garnison vor Ort präsent ist und die Pflanzungen aus der Luft besprüht. Das Cejus unterrichtet die Kinder der einen und hält Kontakt zu den anderen. Ramón Carrillo versteht seine Arbeit auch als einen Kulturkampf: „Manchmal sind es die Kinder, die die Eltern zum Umdenken bewegen.“

Die Drogen bringen Gewalt, die Drogen bringen aber auch viel Geld in die kleine Gemeinde. Auf dem Friedhof drängen sich die Mausoleen des Narco-Landadels zu einer kleinen Stadt. Kaum einer der verstorbenen Narcos wurde 30, auf den Altären zeugen Bierdosen und Whiskeyflaschen von ihrem ausschweifenden Lebensstil. In einer Kapelle hängen Bilder von Sportwagen und einem Kleinflugzeug. „Leonardo López“ steht unter dem Bild eines jungen lächelnden Mannes: „6.1.85–25.8.04“.

Um die Ecke ist eine Militärkaserne, doch auch die Patrouillenfahrten der vermummten Soldaten können nicht verhindern, dass der Drogenhandel hier weiter floriert. Herrschaftliche Villen zeugen vom Erfolg, abends brettern vollverspiegelte Geländewagen über die Dorfstraße, aus denen Narcocorridos schallen, die Schlachtmusik der Kartelle.

Es gibt kein Café in Surutato, keinen Sportplatz und keine Bar. Vergnügen bedeutet für die Jugendlichen, mit Quadbikes die Hauptstraße rauf- und runterzurasen. Was soll man hier sonst machen, sagen sie. Das antworten auch alle, die man nach den Ursachen des Drogenanbaus fragt: Was soll man hier sonst machen?

Auch José Malacón trieb diese Frage um. Der ehemalige Direktor der Polizeischule von Culiacán ist 81 Jahre alt, er sitzt ein paar Dörfer weiter am Holztisch seines Forsthauses. Bei ihm ist Antonio López, 76, ein stiller Mann mit Stoffhemd und Cowboyhut, den alle hier nur Tío Toño nennen, Onkel Toni. Sie sind die Gründer des Cejus.

Als sich die Männer Mitte der Siebziger kennenlernten, hatten es ein paar Dörfler mit Marihuana und Schlafmohn zu bescheidenem Reichtum gebracht, es herrschte Frieden. Dann begann die „Operación Condor“: 1977 schickte Präsident López Portillo das Militär in die Sierra, im Auftrag der Vereinigten Staaten ließ er Drogenplantagen vernichten, die Bewohner erlebten die Aktion als Invasion. „Es war ein Albtraum“, beschreibt Tío Toño die zweijährige Operation, immer wieder versammelte das Militär die Dorfgemeinschaft, goss den Männern Mineralwasser in die Nase. „Sie behandelten uns wie Tiere.“ Hunderte Menschen verschwanden, Verdächtige wurden ohne Gerichtsurteil erschossen, die Infrastruktur zerstört. Am Ende gingen die Narcos gestärkt aus dem Konflikt hervor, auf der Suche nach Alternativen hatten sie den Kokainhandel entdeckt. Surutato aber hatte die Hälfte seiner Einwohner verloren, die Region war verwüstet. „Das Dorf verwaiste“, sagt Tío Toño. „So konnte es nicht weitergehen.“

Die örtliche Grundschule war manchmal wochenlang ohne Lehrer, die Kinder hatten so keine Perspektive. Tío Toño sprach mit seinem Freund Malacón. Wie könnte man die jungen Menschen in der Region halten? Wie eine Alternative zum Drogenanbau bieten? Schnell war klar: Eine Gesamtschule musste her.

Der Staatssekretär in Mexiko-Stadt winkte zunächst ab. Die Schule müssten sie schon selber bauen. Aber sie hatten eine Erlaubnis in der Tasche und die vage Zusicherung, dass der Staat sich an den Unterhaltskosten beteiligen würde.

Die Dorfgemeinschaft rückte zusammen. Tío Toño spendete eine Kuhweide. Ein paar Bauern lieferten Holz. In ihrer Freizeit errichteten die Eltern ein erstes Klassenzimmer. Als das „Centro Justo Sierra“ am 21. November 1978 seinen Betrieb aufnahm, kamen 36 Schüler, jeder hatte einen Stuhl mitgebracht. Weil die Hütte noch nicht fertig war, fand die erste Stunde im Schatten einer Kiefer statt. Die Eltern wechselten sich beim Unterrichten ab. Die Obrigkeit beäugte das subversive Projekt mit Argwohn, manche verdächtigten sie, den Zapatistenrebellen anzugehören. Als sich Ende der Achtziger zwei Familien in Surutato bekriegten, stand die Bergschule kurz vor dem Aus. Kaum einer traute sich vor die Haustür. „Irgendwann hatten die Clans sich gegenseitig ausgelöscht“, erzählt Malacón. „Am Ende blieben nur noch die Frauen übrig.“

In den Anfangsjahren, so Malacón, hätten die Menschen in Surutato eine wertvolle Lektion gelernt: dass sie gemeinsam Veränderungen schaffen können, ohne auf den Willen der Mächtigen angewiesen zu sein. Der Polizeidirektor sah im Cejus auch eine Chance, sein pädagogisches Konzept zu verwirklichen: „Wir wollten Macher erziehen, Menschen, die die Region verändern, keine Ingenieure, die später in die Stadt ziehen.“

Mit dem Heranwachsen der Schüler expandierte auch das Cejus, erst um die Sekundarstufe, später um die Hochschule. 1992 öffnete das Internat für Schüler aus ferneren Dörfern. Malacón hat viel eigenes Geld in das Projekt gesteckt, Tío Toño Jahre seines Lebens der Schule gewidmet. Nebeneinander am Holztisch sehen beide selbst aus wie zwei alt gewordene Schulbuben, denen ein besonders durchtriebener Streich geglückt ist.

Während das Drogengeschäft die Händler reich macht, leben drei Viertel der Bewohner des Landkreises Badiraguatos unter der Armutsgrenze. Sie sind das letzte Glied der Wertschöpfungskette, verborgen in abgelegenen Dörfern, die man nur per Jeep oder Quadbike erreicht. Orte wie El Triguito, eine knappe Autostunde hinter Surutato.

Am Stadtplatz lungern Männer mit Baseballkappen und dunklen Anoraks, ziehen an ihren Zigaretten und beäugen jeden Eindringling mit Misstrauen. Besucher berichten von bewaffneten Männern, die an den Wochenenden das Ortszentrum bewachen. Das Cejus betreibt hier einen Außenposten, eine Grundschule, in der zwei Lehrerinnen vier Klassen unterrichten, jeweils zwei Jahrgänge auf einmal. Die Klassenzimmer dienen zugleich als Speisesaal und Küche. Gegenüber der Schule liegt das Gesundheitszentrum, eigentlich nur eine Holzhütte. Hinter einem Schreibtisch sitzt Magdaleno López, 42, der nur eine Ausbildung zum Sanitäter durchlaufen hat und nun für die Gesundheit von 300 Einwohnern verantwortlich ist.

Häufig fällt der Strom aus, die Impfstoffe verderben, trotzdem hat López große Pläne für El Triguito. Er plant eine Suppenküche, öffentliche Toiletten und eine kleine Parkanlage. Die Kunst zu träumen hat er im Cejus erlernt, noch heute fühlt er sich der Einrichtung verbunden. „Das Cejus vermittelt eine besondere Mentalität“, erklärt der Landarzt. An anderen Schulen lerne man viel über Mathematik und Chemie, das Cejus dagegen bilde Menschen aus, die sich im Leben zurechtfinden. „Ohne das Cejus“, sagt er, „wäre ich nicht der Mensch, der ich heute bin.“

Arbeit ist knapp, vielen bleibt nur die Holzwirtschaft oder die Aprikosenernte, aber die gibt es nur in der Saison. Also ziehen die Männer in stundenlangen Fußmärschen in die Sierra, wo ihre Drogenplantagen versteckt liegen. Sie säen und ernten, legen Bewässerungsschläuche und übernachten bei klirrender Kälte in den Bergen.

Am Ortsrand lebt Lilia Mercado mit ihrem Mann und vier Kindern in einer Holzhütte, sie ist einer von 35.000 Menschen, die der Drogenkrieg in Mexiko allein im letzten Jahr zu Vertriebenen gemacht hat. Alle ihre Kinder besuchen das Cejus. Noch heute bekommt die 36-Jährige eine Gänsehaut, wenn sie von dem Nachmittag erzählt, an dem schwerbewaffnete Männer ihr Dorf stürmten, die Häuser plünderten und schließlich abbrannten. Zwei Tage schlugen sie sich durch die Sierra, dann erreichten sie El Triguito.

Marias ältester Sohn ist 18 Jahre alt. Maria sagt, sie rede mit ihm über die Gefahren des Drogengeschäfts, doch ob das helfe? Wie auch, wenn der Vater wieder „auf dem Berg“ arbeitet, wenn es im Wohnzimmer nach frischem Marihuana riecht.

„Wir sind der Motor von Surutato“, sagt dagegen Lehrer Ramón Carrillo: „Wir haben gezeigt, wie man mit wenigem viel erreichen kann.“ Auf Betreiben der Schule wurden Strom- und Telefonleitungen nach Surutato gelegt, auch die Asphaltstraße, auf die alle so stolz sind, geht auf ihre Initiative zurück. Und dass die Aprikosen nicht mehr ans Vieh verfüttert, sondern zu einer Marmelade von regionaler Berühmtheit verarbeitet werden, liegt vor allem an den Kursen des Cejus. 38 Jahre nach seiner Gründung prägen seine Absolventen als Tierärzte, Apotheker oder Bürgermeister das Gesicht der Region. Und nicht nur das. Die Cejus-Absolventin Rosa Xicoténcatl forscht heute am Roslin-Institut in Edinburgh, wo einst das Klonschaf Dolly gezeugt wurde. Und Ex-Schüler Francisco Bibriesca tourt als begehrter Konzertgitarrist um die Welt, die „Washington Post“ bezeichnete ihn als „einen der wichtigsten Gitarristen Mexikos“. Die Schule gilt mittlerweile als Vorbild.

Doch die Lehrer, alles Absolventen des Cejus, müssen bis heute um ihr ökonomisches Überleben kämpfen. Anfang des Jahres kam einmal monatelang vom Bildungsministerium kein Gehalt mehr, der alte Gouverneur des Bundesstaates Sinaloa hatte die Kassen geplündert, da mussten sie auf dem Markt anschreiben lassen und in der Gemeinschaft sammeln. „Praktisch alle im Kollegium haben einen Nebenjob“, sagt Ramón Carrillo. Er selbst verdingt sich nebenher als Elektroinstallateur, andere arbeiten im Tourismus, fahren Taxi oder reparieren Computer.

Gelegentliche Zuschüsse vom Ministerium, ein paar Pesos vom Jugendamt, sporadische Elternbeiträge, so hält sich das Cejus seit mittlerweile fast vier Jahrzehnten über Wasser. Gleichzeitig gibt die mexikanische Regierung Unsummen für den Krieg gegen die Drogen aus. Laut einem Bericht der Londoner Denkfabrik Institute for Economics and Peace verschlingt der Konflikt jährlich 221 Milliarden Dollar. Den Drogenanbau hat er seit 40 Jahren nicht beseitigen können.

Darüber sprechen örtliche Politiker lieber nicht. Als die Landrätin Lorena Pérez auf einer Wahlkampftour in Surutato vorbeikommt und an einer Bürgerversammlung teilnimmt, gibt sie sich alle Mühe, die Drogenproblematik der Gegend kleinzureden. Der Anbau von Schlafmohn und Marihuana in ihrem Distrikt? „Minimal.“ Dass die größten Drogenbosse Mexikos aus ihrem Bezirk stammen: „Ein Zufall.“ Fast könnte man meinen, die Politikerin walte über eine Kleingartenkolonie und nicht über den Geburtsort der größten mexikanischen Kartelle.

„Erst wenn die Menschen Alternativen haben, wird der Drogenanbau verschwinden“, sagt Cejus-Mitgründer Tío Toño. Aber wie viele Lehrer möchte auch er die Arbeit der Schule nicht direkt als Krieg gegen die Drogen verstanden wissen – vielleicht auch, weil der Wirkkreis der Kartelle zu nah ist, ihr Einfluss zu allgegenwärtig und der Preis zu hoch wäre, um sich explizit gegen sie auszusprechen.

„Natürlich ist es ein Krieg gegen die Drogen“, sagt Javier Valdez. „Der einzige, der funktioniert. Aber den Lehrern dort oben geht der Arsch auf Grundeis.“ Valdez, Hornbrille, Panamahut, sitzt in einem Bistro im Zentrum der Landeshauptstadt Culiacán. Der Chefredakteur der Wochenzeitung „Rio Doce“ hat viele Bücher über die Welt der Narcos veröffentlicht, in seiner Heimat gilt er als Koryphäe. An diesem Morgen veröffentlicht „Rio Doce“ die neuesten Ziffern des Drogenkriegs, allein in der Provinz Sinaloa gab es in diesem Monat 128 Tote. Ein Jahr nach der Festnahme von Drogenboss Joaquín „El Chapo“ Guzmán sind wieder Kämpfe ausgebrochen, bewaffnete Kommandos werden auf den Straßen Culiacáns gesichtet, Polizeihubschrauber kreisen im Tiefflug über der Stadt.

„Der Drogenkrieg der Regierung nimmt den Menschen die Lebensgrundlage, liefert aber keine neue“, sagt der Journalist. „Gleichzeitig setzt man die Kinder der Gewalt aus: Den Vater haben sie umgebracht, den Onkel gefoltert, der Bruder wurde entführt und ist nie wieder aufgetaucht.“ Die Arbeit des Cejus, das sei Lernen im Kugelhagel, die Einrichtung so etwas wie eine Oase inmitten der Wüste. „Wir brauchen soziale Entwicklung statt Waffen“, sagt Valdez. Ein geradezu prophetischer Satz aus dem Mund dieses unerschrockenen, mutigen Journalisten und Narcos-Spezialisten. Ein paar Wochen nach diesem Gespräch wird Javier Valdez auf offener Straße von Unbekannten erschossen.

Wenn man die Küstenmetropole mit dem Flugzeug verlässt und über den endlosen Bergketten schwebt, versteht man, warum die Sierra Madre Occidental, ein Gebiet von der Größe Großbritanniens, so unbeherrschbar ist. Doch das Centro Educativo Justo Sierra, als Experiment gestartet, hat bewiesen, dass es möglich ist, inmitten von Chaos, Korruption und Gewalt eine Zivilgesellschaft zu errichten, wenn Enthusiasmus, Beharrlichkeit und Widerstandsgeist sich verzahnen. Heute besteht eine Chance, dass nachfolgende Generationen das Dilemma der Gewalt überwinden. Und dass die Menschen eines Tages an Aprikosenmarmelade denken, wenn der Landkreis Badiraguato erwähnt wird, und nicht an die Heimat von „El Chapo“.

 

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